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Donnerstag, 16.12.2021 — 19:00
Abtei Neumünster, 28, rue Münster, Luxemburg-Grund
Politik und Gesellschaft
„Das Ende des Odysseus oder die Neuerfindung der Aeneas“
Vortrag von Jean Portante
In französischer Sprache
Eintritt frei Um Anmeldung wird gebeten per Email an billetterie@neimenster.lu oder telefonisch: +352 26 20 52 444 „CovidCheck“ – Veranstaltung (Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung bleibt Pflicht.)

Wenn man sich die Migranten ansieht, die zu Hunderten und Tausenden im Mittelmeer ertrinken, kann man nicht sagen, dass sie wie Odysseus „eine lange Reise hinter sich haben“. Vielmehr steht Odysseus auf der Seite derer, die sie zur Flucht gezwungen haben. Erinnern wir uns: Es geht um einen Feldherrn aus Ithaka, der die Stadt Troja belagert und dann in Brand setzt. Wenn die schmutzige Arbeit getan ist, wünscht er sich wie jeder Soldat nur eines: nach Hause zu seiner Frau Penelope und seinem Sohn Telemachus zurückzukehren. Die Literatur nennt dies eine Odyssee. Und sie hat Odysseus zum Symbol des Exils gemacht. Aber Odysseus ist kein Exilant.

Auf der anderen Seite gibt es in Troja, das brennt und seine Toten betrauert – Flüchtlinge, die keine andere Wahl haben, als zu sterben oder ihre zerstörte Stadt zu verlassen. Der berühmteste von ihnen ist Aeneas. Wenn man die Darstellungen von Aeneas auf Gemälden betrachtet, sieht man ihn, wie er seinen Vater Anchises auf den Schultern trägt und seinen Sohn Ascanius an der Hand hält, während seine Frau Creusa bei der Flucht verschwindet. Das sind die Bilder, die wir heute im Fernsehen sehen, die Kolonnen der Flüchtlinge. Hier ist Aeneas, wie er mit einem behelfsmäßigen Boot auf das Meer hinausfährt – wie die Migranten heute. Mehrere Male erleidet er Schiffbruch, bevor er die Küste Italiens erreicht. Keiner der heutigen Migranten sagt, dass er wie Odysseus ist. Odysseus steht auf der Seite der Sieger. Und sie sind, wie Aeneas, besiegt. Ihre Überfahrt ist keine Odyssee. Es ist eine Aeneis. Was wäre, wenn wir die Werke von Homer bis Vergil in diesem Licht neu lesen würden?

Jean Portante wurde in Differdange (Luxemburg) geboren und lebt in Paris. Er ist Schriftsteller, Übersetzer und Journalist. Sein Werk von etwa vierzig Büchern – Poesie, Romane, Essays, Theaterstücke – ist in großen Teilen übersetzt. Mehr

Organisiert vom Institut Pierre Werner

Unterstützung: neimënster